Genossenschaften in der Nazi-Zeit: Kompromisslose Aufklärung und reinigendes Gewitter bitter nötig

Wismar, 17. Juli 2018 (geno).Genossenschaften und der Nationalsozialismus.  Die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Hochschule Wismar hat soeben mit einer bemerkenswerten und verdienstvollen Publikation von Prof. Dr. Günther Ringle eine grundsätzliche Debatte um genossenschaftliche Grundsätze entfacht.

In den hier vorgestellten „Wismarer Diskussionspapieren“ werden Grundsatzfragen gestellt und Feststellungen getroffen, die in Deutschlands Genossenschaftswesen über Jahrzehnte hinweg unangetastet blieben, umgangen oder mit Bedacht ignoriert worden sind. Im Mittelpunkt steht das bislang unaufgeklärte Kapitel der   Verflechtung der Genossenschaften in den wirtschaftspolitischen Apparat des Dritten Reiches und ihre ideologische Vereinnahmung im Strudel der Diktatur. Die 30seitige Schrift unter dem Titel „Verfremdung der Genossenschaften im Nationalsozialismus“ ruft zu einer ehrlichen, sachlichen und tiefgründigen Auseinandersetzung darüber auf, wie der hehre Genossenschaftsgedanke und die auf Selbstverwaltung orientierten Kooperativen – vor allem deren Verbände – mit allen erdenklichen Mitteln „auf Linie gebracht“ und in das zerstörerische Räderwerk der Nazis verwickelt wurden.

Der Appell zur Aufklärung ist deshalb so enorm bedeutungsvoll, weil damals den Genossenschaften per Gesetz aufgezwungene oder unter dem Siegel der Freiwilligkeit eingebleute Regeln bis in die bundesdeutsche Gegenwart Gültigkeit haben. Sogar mit kaum möglich zu haltenden sprachlichen Verrenkungen wurde der Genossenschaftssektor mit sogenannten Gleichschaltungsbeschlüssen unter das Joch der Hitler-Diktatur gedrückt. Die auf „freiwillige Selbstgleichschaltung“ getrimmten Genossenschaften und ihre Verbandsvertreter trafen nur auch wenig Widerstand in den eigenen Reihen. Der demokratische Kern genossenschaftlicher Tradition wurde geleugnet. Ringle formuliert es so: „Die betreffenden Genossenschaften haben sich ihres Wesenscharakters entledigt. Eine unbewusste Sympathie für autoritäre Herrschaft, die vom Kaiserreich her nachwirkte, mag dazu beigetragen haben.“ Bereits vor 1933 hätten es die Verbandsspitzen versäumt, sich zum Demokratieprinzip zu bekennen und innerhalb der Organisation lebendig zu halten. Zu Beginn der NS-Zeit habe man sich in abwartendes Schweigen gehüllt. Dadurch boten sie den Nationalsozialisten leichtes Spiel. Besonders deutlich belegt das die Einordnung der landwirtschaftlichen Genossenschaften im „Reichsnährstand“ unter Leitung des Reichsbauernführer Walther Darre. Diese Vorgehensweise wurde durch die Nazipresse befördert, indem mit dem mythologisierenden Begriff der „Volksgemeinschaft“ der Gegensatz von Führerprinzip und genossenschaftlicher Selbstverwaltung verschleiert wurde. Die Umdeutung des Genossenschaftsgedankens reichte letztlich soweit, als dass diese Idee „nicht nur urdeutsch, sondern auch in ihrem Wesen vollkommen nationalsozialistisch“ sein sollte. 

Auflehnung war selten. Dennoch gab es – seltenen – Widerstand gegen die Gleichschaltung. Zu den Ausnahmen gehörten der „rote“ Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften, deren Mitglieder sich aus der klassenkämpferisch eingestellten sozialdemokratischen Arbeiterschaft rekrutierten.

Bis heute ist dieses dunkle Kapitel des deutschen Genossenschaftssektors nicht aufgearbeitet worden. Kompromisslose Aufklärung ist dringend und bitter nötig. Das gilt umso mehr, als dass zahlreiche der damaligen Regelungen und Vorschriften bis heute uneingeschränkt gelten.  Ein reinigendes Gewitter, um den juristischen Restmüll und andere Altlasten auch aus den Köpfen wegzuspülen, hat nicht stattgefunden. Oft hat nur verbal ein Wandel stattgefunden. Aus Prüfungszwang wurde – verharmlosend – Prüfungspflicht. Dazu zählt auch die Zwangsmitgliedschaft in einem Prüfungsverband. Die  Inhalt der Vorschriften blieben erhalten, wohl weil es die Pfründe der oberen Genossenschaftshierarchien sichert. Für die Genossenschaften an der Basis hängt derlei makabres Nazi-Erbe wie ein Mühlstein am Halse. Insofern ist neben intensiver Aufklärung eine aktive und engagierte Selbstbefreiung angesagt. Dazu sind die deutschen Genossenschaften und ihre Verbände geradezu verdonnert, da sie die Genossenschaftsidee als geadeltes Gedankengut in die Rangliste des immateriellen Weltkulturerbes aufnehmen ließen. ++ (hi/mgn/17.07.18 – 139)

www.genonachrichten.de, www.genonachrichten.wordpress.com, www.genossenschaftsnachrichten.wordpress.com, e-mail: mg@genonachrichten.de, Redaktion: Matthias Günkel (mgn), tel. 0176 / 26 00 60 27

Empfehlung:  Das von igenos und der Initiative Genossenschaftswelt entwickelte coopgo  Arbeitspapier„in guter Genossenschaft“  übt nicht nur Kritik am bestehenden Genossenschaftssystem sondern beschreibt auch interessante Lösungswege.
Das Diskussionspapier  steht hier zu zum download bereit.

www.igenos.de,  www.genossenschaftswelt.dewww.coopgo.de, www.geno-bild.de   www.genossenschaftsnachrichten.de

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3 Kommentare.

  • […] der Umwandlung einer Genossenschaft in eine genossenschaftliche Aktiengesellschaft entfällt auch die 1934 installierte Zwangsmitgliedschaft in einem genossenschaftlichen Prüfungsverband. Außerdem kann sich jede genossenschaftlichen Aktiengesellschaft ihren Wirtschaftsprüfer selbst […]

  • Ja, wenn Sie den Beitrag „googeln“ finden Sie ein pdf Dokument der Hochschule Wismar – auch die anderen Beiträge sind lesenswert!

  • Andreas MaXXXX Name aus Datenschutzgründen nicht öffentlich
    17. Juli 2018 14:52

    Ist das Dokument über das Netz einsehbar?

Kommentare sind geschlossen.