Die GenoNachrichten veröffentlichen hier einen Erfahrungsbericht eines neu gewählten Vertreters über die Realität genossenschaftlicher Mitbestimmung.
Mit großem Interesse und dem Wunsch nach aktiver Mitgestaltung habe ich mein Amt als erstmals gewählter Vertreter unserer Wohnungsbaugenossenschaft angetreten. Umso ernüchternder war meine erste Vertreterversammlung – sie zeigte deutlich: Zwischen Anspruchund gelebter Praxis klafft eine spürbare Lücke.
Die Einführungsveranstaltung – auf 90 Minuten begrenzt – vermittelte zwar grundlegende Informationen, ließ aber wenig Raum für Austausch. Besonders irritierend war eine zentraleAussage des anwesenden Juristen eines Prüfverbandes: „Vertreter üben ihr Amt ausschließlich innerhalb der Vertreterversammlung aus – nicht außerhalb.“
Diese Aussage sorgte bei vielen Anwesenden für Verwunderung. Auf Nachfrage, ob man sichgegenüber anderen Mitgliedern denn überhaupt als Vertreter zu erkennen geben dürfe, folgteeine klare Absage. Aktionen wie Flyer oder offene Informationsgespräche seien „unerwünscht“.Dabei ist die Rolle der Vertreter eigentlich zentral für die demokratische Struktur einer Genossenschaft: In größeren Genossenschaften, in denen eine direkte Mitwirkung aller Mitglieder organisatorisch kaum möglich ist, wählen die Mitglieder Vertreter. Diese nehmen ihre Aufgaben in der Vertreterversammlung wahr – dem formal höchsten Organ der Genossenschaft. Dort werden u. a. der Jahresabschluss beschlossen, über die Verwendung von Überschüssen entschieden sowie Vorstand und Aufsichtsrat entlastet. Ziel dieses Modells ist es, trotz hoher Mitgliederzahlendemokratische Mitbestimmung sicherzustellen.
Im Laufe der Veranstaltung aufkommende Fragen, etwa zur tatsächlichen Rolle und den Mitwirkungsmöglichkeiten der Vertreterversammlung, sollten aus Zeitgründen jedoch bitte am Ende gestellt werden. Dort angekommen, war die Zeit jedoch bereits verstrichen. Stattdessen wurde auf die nächste reguläre Vertreterversammlung verwiesen, die in einem Jahr stattfinde solle. Dazwischen sei eine Informationsveranstaltung geplant – Details unklar. Auch der durch einige Zwischenrufe geäußerte Wunsch auf eine zeitnahe Vertreter-Veranstaltung wurde zwar zur Kenntnis genommen, jedoch vage im Raum stehen gelassen.
Auch eine Kontaktliste der Vertreter zur besseren Vernetzung wurde aus Datenschutzgründen abgelehnt. Wer Kontakt aufnehmen wolle, solle sich mit der Bitte um eine Kontaktliste an den Vorstand wenden – ein umständlicher Umweg, der kaum Zusammenarbeit fördert.
Zusätzlich wurde klargestellt:
– Vertreterversammlungen werden ausschließlich vom Vorstand einberufen.- Die Tagesordnung wird vom Vorstand festgelegt.
– Einzelne Vertreter können keine eigenen Beschlussvorlagen einbringen – ihre Vorschläge gelten nur als „Anregungen“.
Fazit: Die Vertreterversammlung ist formal das höchste Gremium der Genossenschaft – doch ihreGestaltungsmöglichkeiten sind stark begrenzt. Demokratische Beteiligung setzt Offenheit, Austausch und Transparenz voraus. Davon war in meiner ersten Versammlung leider nur wenig zu spüren. Es bleibt zu hoffen, dass sich daran etwas ändert – nicht zuletzt im Interesse all jener Mitglieder, die mit ihrer Stimme auf echte Mitbestimmung gesetzt haben.