Genossenschaftsgeschichte ein neues Kapitel

Dresden, 6. November 2019 (geno). Der Dresdener Architekt Rudolf Schilling (1859-1933) und seine engen Kombattanten wirkten vor einem Jahrhundert und waren sehr sozial engagiert. Sie haben Genossenschaftsgeschichte geschrieben. Um den Mangel an bezahlbaren und ausreichend großen Arbeiterwohnungen zu beheben, förderten sie den 1898 gegründeten Dresdener Bau- und Sparverein, für den sie sehr große Wohnanlagen entwarfen. Im Jahr 1900 wurde er sogar Vorsitzender und 1905 Aufsichtsratsmitglied. Er dürfte sich im Grabe mehrfach umdrehen angesichts der am Mittwoch ablaufenden Szenerie in dem nach ihm benannten Stadtquartier in Dresden-Striesen. In den Morgenstunden räumt Gerichtsvollzieherin Heike Z in den Rudolf-Schilling-Höfen gewaltsam eine Wohnung der Wohnungsgenossenschaft Johannstadt (WGJ) und hat sich dazu polizeiliche Verstärkung geholt. Ein Kommando mehrerer Dutzend Beamten des sächsischen Innenministeriums hält eine etwa 50köpfige Schar von Protestierern in Schach und sorgt für einen möglichst reibungslosen Rausschmiss des jungen Dresdeners Richtung Obdachlosigkeit.

Die „Dresdner Neuesten Nachrichten“ (DNN) schildern die Vorgänge und zitieren WGJ-Vorstand Alrik Mutze, der zu den Hintergründen der Zwangsräumung sagt: „Uns haben von den Bewohnern aus dem Haus Beschwerden erreicht, weil die Wohnung immer wieder untervermietet worden sei.“ Allerdings standen diese Vorwürfe gar nicht im Vordergrund der gerichtlichen Auseinandersetzung, die von der WGJ ausgelöst wurde. Der Genossenschaftsvorstand, der bei den später folgenden beiden mündlichen Verhandlungen vor dem Amtsgericht Dresden abwesend war, hatte Klage gegen das Genossenschaftsmitglied – und gleichzeitig Wohnungsinhaber – eingereicht. Im Zentrum des Gerichtsprozesses standen demgegenüber die innergenossenschaftliche Demokratie, die Kommunikation zwischen den Mitgliedern und die Transparenz zu geschäftspolitischen Entscheidungen der Leitungsgremien. Letztlich urteilte das Amtsgericht zwar zuungunsten des Genossenschaftsmitglieds, das jedoch gegen die noch nicht rechtskräftige Entscheidung Rechtsmittel einlegte.

Die Sicht der Demonstranten, die vor allem zum Aktionsbündnis „Mietenwahnsinn stoppen Dresden“ gehören und der Zwangsräumung den Kampf ansagten, wird in ihrer Homepage wiedergegeben: „Trotz eines laufenden Berufungsverfahrens möchte die Wohnungsgenossenschaft Johannstadt (WGJ) vollendete Tatsachen schaffen und den Mieter gewaltsam räumen. Das beworbene lebenslange Wohnrecht und das WGJ-Marketingmotto ‚Mittelpunkt Mensch‘ ist nach der Einforderung von Mitsprache- und Mitgliederrechten sowie von vertraulichen Hinweisen an die vertretenden Organe der Genossenschaft zu geschäftspolitischen Entscheidungen nichts mehr Wert. Während in Frankreich im Oktober die Winterpause für Zwangsräumungen beginnt, soll das Genossenschaftsmitglied der WGJ gnadenlos auf die Straße gesetzt werden. In den vergangenen zwei Jahren hat er mit aller Kraft gegen eine Flut von Anwalts- und Gerichtsschreiben um das eigene Zuhause gekämpft.“

Dass der Tag nicht nur niederschmetternde Bitternis verbreitet, sondern auch berechtigte Hoffnung auf ein wahrhaftiges und basisdemokratisches Genossenschaftsmodell versprüht, beweist die unmittelbar vor Mitternacht beim Landgericht Dresden eingegangene Berufungsbegründung des jetzt wohnungslosen Genossenschafters. Vielleicht schreibt er ein wichtiges und neues Kapitel konkreter Genossenschaftsgeschichte. ++ (wg/mgn/06.11.19 – 191)

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